Hilfe, ich habe ADHS – ein Betroffener berichtet

Vorwort

ADHS, was ist das? Viele können mit dem Begriff nichts anfangen, in den Medien teils kontrovers diskutiert und auf Facebook liest man immer wieder Beiträge die davon Handeln, dass ADHS sowieso nur eine Erfindung der Pharmaindustrie ist um mehr Geld zu verdienen. Medikamente würde man sowieso nicht brauchen und die Kinder seien eben nur lebhaft, leicht ablenkbar, ein wenig ungeschickt, neugierig und manchmal auch ziemlich schusselig. Man denke hierbei etwa an Hans guck in die Luft, der ständig in die Luft schaut und dermaßen abgelenkt ist, dass er ins Wasser fällt und ertrinkt. Oder an den Suppenkasper, der aus unerfindlichen Gründen seine Suppe nicht essen will.

AD(H)S ist keine Modekrankheit oder eine neue Erscheinung. Geschichten über solche Menschen gibt es seit Jahrhunderten. So war es nicht irgendwer, der die Geschichten von Hans Guck in die Luft und dem Struwwelpeter geschrieben hat, sondern der Arzt Heinrich Hoffman, der bereits 1844 die Symptome von AD(H)S bei seinem Sohn entdeckte und diese auch in medizinischen Fachschriften publiziert hat. Schon 1937 wurde die AD(H)S dann medizinisch präzisiert und als anerkannte Krankheit definiert. Woher kommt nun aber die Bezeichnung der Modekrankheit? Erstmal kamen in den 1990er Jahren solche Bezeichnungen auf, schon damals wurde ADH(H)S übrigens erfolgreich mit Medikamenten therapiert.

Nun wird wie schon bekannt ist relativ viel über AD(H)S geschrieben, meist von außenstehenden Personen, Personen, die also gar nicht mit dem Thema konfrontiert sind. Besonders von dieser Gruppe wird immer wieder die Existenz der Krankheit als solches verleumdet und die Wirksamkeit von Medikamenten als „Pharmalüge abgetan“. Was AD(H)S ist, das ist heutzutage unumstritten. Dies wurde bereits in vielen Fachartikeln von Experten auf diesem Gebiet beschrieben und soll hier auch nicht mehr thematisiert werden. Viel wichtiger hingegen wären Artikel und Berichte von Personen, die damit selbst konfrontiert sind und genau das wird in den folgenden Zeilen passieren: 

ADHS in meiner Kindheit

Ich bin heute Mitte zwanzig, bin Student und habe meinen Bachelor erfolgreich abgeschlossen, studiere nun im Master und arbeite im PR-Bereich eines kleinen Unternehmens. Jedoch wäre ich wahrscheinlich ohne die Hilfe meiner Mutter, welche sich extrem für mich eingesetzt hat niemals so weit gekommen.

Ich habe mit 12 Jahren die Diagnose ADHS bekommen. Aufmerksamkeitsdefizit-hyperaktivsyndrom. Ein ganz schon langes Wort für eine noch kompliziertere Krankheit.

Dass ich anders bin als die anderen Kinder hat man schon relativ früh erkannt, ich war als Baby ein Schreibaby, war im Kindergarten immer ein bisschen laut, konnte nicht wirklich lange bei einer Sache bleiben, konnte selten länger ruhig sitzen bleiben und habe allerlei Dinge gemacht, die man eigentlich nicht machen sollte.

So habe ich, wie meine Mutter, mittlerweile mit einem lachenden Auge erzählt, Brotscheiben in den Videorekorder gesteckt, das Paprikapulver in den trockner geworfen oder solange Klopapier in das Klo geworfen und gespült, bis das Wasser über die Treppen in das Erdgeschoss geronnen ist.

Mein ADHS als ich in die Schule kam…

…da begannen die Herausforderungen zu wachsen.

Das stellte damals noch keine großen Probleme dar, es hatte, zu mindestens für mich keine großartigen Konsequenzen. Das änderte sich dann, als ich mit 6 Jahre in die Schule kam und auch anfing im örtlichem Fußballverein Fußball zu spielen. Aktivitäten und Aufgaben, bei denen es nun durchaus Disziplin und eine gewisse Selbstbeherrschung und Eigenwahrnehmung braucht waren teilweise schwierig für mich, teilweise unlösbar. 

So konnte ich nun auch in der Schule nicht stillsitzen und „brav“ sein wie alle anderen, aber nicht, weil ich es nicht wollte, sondern weil ich es nicht konnte. Ich war zwar nie ein schlechter Schüler, aber hatte doch meine Schwierigkeiten, jedoch nicht mit dem Schulstoff an sich, der mir meist leichtfiel wenn ich mich einmal für mehr als 10 Minuten konzentrieren konnte, sondern mit der Art und Weise, wie man sich in der Schule zu verhalten hatte.

Schnell war ich der Klassenclown und konnte mich auch bei Auseinandersetzungen mit anderen Mitschülern nicht immer unter Kontrolle halten. Wenn ich also die Hausaufgaben wieder einmal nicht gemacht hatte, mein Heft zuhause vergessen hatte, am Pausenhof ein bisschen zu grob wurde und mir mit all diesen Dingen Probleme einhandelte, wusste ich oft selbst nicht warum immer mir das passiert.

Doch nicht nur in der Schule, in der ja Jungs öfters Probleme haben, sondern auch beim Fußball, was ich immer sehr gerne machte und wobei ich auch sehr gut war, stach ich durch undiszipliniertes Verhalten heraus. Sich in einer Linie aufstellen und den Ball ruhig halten, schwierig, eine Runde zu laufen ohne Blödsinn zu machen, beinahe unmöglich. 

„Ihr Kind kann kein ADHS haben…

…züchtigen sie ihn mal, dann wird er schon wieder normal!“

Doch es war nicht so, dass das von mir immer eine bewusste Entscheidung war, sondern vielmehr passierte es einfach. Ich dachte nicht darüber nach was ich machte, ich war impulsiv und machte es einfach, ohne darüber nachzudenken. Dasselbe Problem hatte ich dann natürlich auch, wenn mich ein Erwachsener fragte, warum ich das machte oder ich geschimpft wurde.

Ich war frech, brachte die Erwachsenen mit meinen Antworten zur Weißglut, aber nicht weil ich es wollte, sondern weil, wie meine Mutter heute sagt, mein Mund schneller war als der Kopf, ich sprach und dacht dann darüber nach, normalerweise denkt man und sagt dann etwas.

Nun, ich schaffte ohne Problem die Grundschule, und kam auf die nächsthöhere Schule. Dort fiel es mir noch schwerer mich anzupassen, und wiederum nicht, weil ich es nicht wollte, sondern weil ich nicht konnte. Auch dort fiel ich auf und nun wurde ich für meine Eltern, die noch zwei weitere Kinder hatten, zur ziemlichen Belastung.

Ständige Gespräche in der Schule über mein Verhalten, über meine Faulheit, die fehlenden Hausaufgaben und meine frechen Antworten. Nachdem sich die Situation zuspitze und die Belastung weder für die Schule, meine Eltern aber auch mich und vor allem mich, nicht mehr tragbar war, informierte sich meine Mutter, warum ich so bin wie ich bin.

Sie wusste, dass ich eigentlich ein netter, schlauer und einfühlsamer Junge war, der aber nicht immer so konnte wie er wollte. Dann kam sie auf das Thema AD(H)S. Wir wurden von Therapeut zu Therapeut geschickt, vom einen Arzt zum anderen. Lange kamen Antworten wie: „Ihr Kind kann kein ADHS haben, für das ist er viel zu intelligent, der langweilt sich nur, deshalb ist er immer so abgelenkt“ andere, ältere und konservative Ärzte sagten uns, dass sie ADHS aus Prinzip nicht diagnostizieren, dem Jungen würde körperliche Züchtigung nicht schaden, dann würde er schon wieder normal werden. 

Die Diagnose ADHS…

…endlich wurde vieles klar!

Nach einem Spießrutenlauf über beinahe ein Jahr wurden wir dann zur Untersuchung in ein Krankenhaus, welches sich auf die Diagnose ADHS spezialisiert hatte, eingeladen. Dort wurde die für meine Familie, für mich und wohl auch ein bisschen für meine Lehrer, dann eigentlich erfreuliche Diagnose ADHS gestellt und ich wurde auf die passenden Medikamente eingestellte, was übrigens kein „von heute auf morgen“ Akt ist, sondern sich über Wochen ziehen kann.

Man wusste jetzt aber endlich woran es lag. Ich war also kein böser Junge der jeden mit Absicht zu Weißglut brachte, sondern die Synapsen in meine Gehirn waren eben weniger ausgeprägt als bei anderen Kindern im meinem Alter.

Es wäre zu viel, wenn ich sagen würde, dass sich meine Welt grundlegenden geändert hätte, ich war noch immer nicht der fleißigste Schüler, noch immer nicht der ruhigste oder der bravste im Allgemeinen, aber es hatte sich doch sehr viel verändert:

Die Matheaufgaben waren nun ordentlich und sauber aufgeschrieben, ich musste nicht mehr drei Mal neu anfangen, weil ich nicht mehr wusste wo ich war, ich verlor keine Stifte mehr während des Schreibens, ich verhaute keine Schularbeiten mehr, weil ich während der Klassenarbeit für zehn Minuten einen Vogel vor dem Fenster beobachtete und dann zu wenig Zeit hatte, konnte nun endlich auf einer Linie schreiben ohne nach oben und unten abzurutschen. Auch konnte ich nun endlich stillsitzen und eine Aufgabe länger als nur zehn oder 15 Minuten lang verfolgen, die innere Unruhe war weg, die Getriebenheit.

Seitdem verlief das Leben zwar nicht immer gerade, aber es war eine riesen Erleichterung. Durch die Geduld meiner Mutter, dem Verständnis von Lehrern, Verwandten und Freunden und die Mühe von Kompetenten Ärztinnen und Ärzten habe ich zum Glück den richtigen Weg gehen können, den Weg, den die meisten anderen Kinder gehen können, jedoch ohne Medikamente.

Die Moral von der Geschichte ist, auch wenn euch das Kind anlügt, frech ist, euch vorkommt, dass es gewisse Dinge mit Absicht macht, habt Nachsicht, denn für euer Kind könnte es genau so schwierig, wenn nicht noch schwieriger sein wie für euch.

Natürlich muss gesagt werden, dass nicht jedes auffällige Kind ein ADHS’ler ist und nicht jeder ADHS’ler ein auffälliges Kind. Es ist auch keine psychische Erkrankung, sondern eine messbare und an klar definierten Kriterien erkennbare Stoffwechselerkrankung im Gehirn, die jedoch mit vielen Begleiterscheinungen einhergehen kann.

Auch sind Medikamente allein nicht die Lösung, ein ADHS’ler bedarf in den meisten Fällen besonderer Einfühlsamkeit. So verzweifelt nicht, sondern fragt nach Hilfe, denn manchmal kann das mutigste sein, andere Menschen nach Hilfe zu fragen.  

(Dieser Artikel ist ein autobiographischer Bericht eines Betroffenen und stellt nicht unbedingt die Meinung und Einsichten des Blogbetreibers dar. Und gerade deshalb kann er so hilfreich sein)

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