„Das Dorf schläft ein, die Werwölfe erwachen…“.
Erster Abend im Camp. Draußen macht sich die Dunkelheit breit. Drinnen knistert das Feuer in unserem Kamin. Es ist gemütlich in unserer Runde. Wir sitzen zu fünfzehnt mit geschlossenen Augen am Tisch. Jeder hat eine Rolle. Ich bin der Heiler. Neben mir Dorfbewohner, Armor, Verliebte, Werwölfe, Hexe und Jäger. Ich kenne nur meine Karte, meine Rolle, die der anderen sind streng geheim.
Puh, was muss ich nochmal machen? Welche sind meine Eigenschaften? Jedenfalls erstmal nicht erwachen, die Werwölfe sind dran. Ich lausche. Es raschelt irgendwo. Der Erzähler spricht Richtung Martina. Ist sie ein Werwolf? Oder macht er das, um uns zu verwirren? Wie tickt er? Wie die anderen? Ich höre: „Der Heiler erwacht.“ Ich bin dran und folge den Anweisungen des Erzählers…
Lang hab ich geglaubt, das Spiel „Werwölfe“ wäre ein sehr merkwürdiges und grauseliges Spiel, das mich überhaupt nicht abholt. Doch dann durfte ich es zum ersten Mal selbst mitspielen. Campzeit. Mutter-Sohn-Camp, damals in Tirol mit Männers. Mein Sohn und ich – einer von meinen sechs Jungs. Wir hatten in einer wundervollen Mama-Sohn-Gruppe vier exklusive Tage miteinander, soviel Zeit zu zweit wie noch nie. Und wir spielten jeden Abend alle zusammen Werwölfe. Dieses sagenumwobene Spiel, dass unsere Kinder alle kennen und von dem ich immer glaubte, dass ich es nicht mag.
Und heute: Ich liebe es! (Was nicht heißt, dass ich es gut kann 😉)
Warum? Ich hole etwas aus…
Als Mama ist es oft gar nicht so einfach, mit den Söhnen in gutem Kontakt zu bleiben, wenn sie elf-zwölf Jahre alt werden. Meine großen Jungs begannen, sich in dem Alter zunehmend zurückzuziehen und weniger zu reden. Die Kommunikation wurde einsilbiger und sehen konnte ich oft vor allem den Rücken, kurz vor dem Zufallen der Zimmertür. Wir streiten nicht viel und benutzen auch (meist) die Türklinken, dennoch ist es anders als noch vor ein paar Jahren, wo sich ein sprudelnder Quell der Mitteilungsfreude und Wissbegierde neben mir durch den Tag plapperte.
Wie wenn ein Schalter umgelegt wurde, war das plötzlich vorbei. Und nicht nur das. Die Freunde gehen nicht mehr ein und aus bei uns. Deren Mütter sind nicht mehr zwingend meine Freundinnen. Beim Kauf von Klamotten beraten jetzt die Kumpels. Oder vielleicht die Freundin, von der ich noch nichts weiß? Abnabelung. Alles gut und schön und im Kopf so klar. Doch wer war er noch mal, der, den ich jetzt loslassen darf.
Ich finde das ganz schön schwierig. Die Statistiken in Büchern machen mich Glauben, er sitzt zu viel am Computer. In der Schule ist er zu wenig frustrationstolerant. Mit seinem kleinen Bruder zettelt er wegen Lappalien riesige Streits an. Und an den Haushaltsplan hält er sich auch nicht. Sollte ich strenger sein, um ihn besser auf seine Zukunft vorzubereiten? Das Leben ist doch schließlich kein Ponyhof. Kann ich es verantworten, ihn jetzt loszulassen?
Kennst du diese Gedanken? Diese Unsicherheit?
Die meisten Mamas in den Camps und im Coaching kennen das. Das weiß ich aus meiner Erfahrung – als Teilnehmer und als Coach. Sie wissen nicht mehr so viel über ihren Sohn und es fällt ihnen schwer, im Vertrauen zu sein, denn das, was sie erleben, ist oft wenig vertrauenerweckend. Die Schulnoten verschlechtern sich, Lügen ist an der Tagesordnung, die Laune ohne Vorwarnung plötzlich im Keller. Raue See und kein Rettungsboot an Bord. Den Blick dann in eine leuchtende Zukunft am Horizont zu richten, zu vertrauen und loszulassen ist wahnsinnig schwer.
Eine Runde Werwölfe kann in der Situation Heilung bringen. Plötzlich erlebst du deinen Sohn als Moderator, hörst ihn argumentieren, um anzuklagen oder sich zu verteidigen, siehst ihn in der Rolle eines Streitschlichters, oder bist beeindruckt, was für schlaue Schlüsse er aus dem Spielverlauf ziehen kann (die sich dir erst nach längeren Erklärungen erschließen). Sobald du dich öffnest für dieses Spiel, in dem verurteilt, geschummelt, getötet, verhext und manchmal auch geheilt und verliebt wird, bist du wieder in Verbindung. Klingt absurd, ist aber magisch. Deshalb begeistert es die Kinder. Und nicht wenige Jungs sagen im Spielverlauf irgendwann mal mit einem Schmunzeln um die Lippen „Ich klage meine Mama an, weil…“ Nachts im Camp, wenn die Werwölfe los sind.
In der Abschlussrunde meines gerade zu Ende gegangenen Camps freute sich eine Mama ganz besonders darüber, ihren Sohn aus einer ganz neuen Perspektive kennengelernt zu haben – als jungen Mann, der den Überblick behält, Ruhe bewahrt, Humor hat, Streit schlichten kann und Lösungen findet. Und der sich außerdem durch enge Höhlen traut und mit seinen Händen Pizzateig kneten kann.
Und diesen Schatz nimmt sie mit nach Hause und zukünftig, wenn es an irgendeiner Stelle im Alltag knirscht, kann sie sich erinnern: Ihr Sohn ist so viel mehr als ein schwieriger Pubertierender. Er ist vor allem ein junger Mann, der seinen Weg gehen wird und den sie im vollen Vertrauen fliegen lassen kann.
Franziska von Oppen
Franzi ist Mutter von 6 Söhnen, Expertin für Jungs sowie gefragter Eltern & Söhne Coach. Sie leitet das Männers – Mutter Sohn Camp in der sächsischen Schweiz.